Prof. Michael Lingner „Frachtbrief“

zum Container-Art-Project

I)

Es kommt immer häufiger vor, dass auch ganz gewöhnliche Dinge in der Öffentlichkeit ohne weiteres als Kunst präsentiert werden. Durch diese Weise des „Labeling“ wird versucht, für alles Mögliche besondere Aufmerksamkeit und eine zusätzliche Aufwertung zu erreichen. Das geschieht gemeinhin aus kommerziellen Interessen und führt inzwischen bei den meisten Adressaten nicht einmal mehr zu leichten Irritationen.

Immer seltener kommt es aber überhaupt noch vor, dass die Deklaration von Alltagsdingen zur Kunst tatsächlich ernst gemeint, also mit einem ideellen Anspruch verbunden wird. Doch auch dann stellt sich allenfalls noch für die wenigen, denen außer ihrem eigenen Wohlstand alle anderen Werte ohnehin gleichgültig sind, die heikle Frage: Wie kann denn etwas Kunst sein, obwohl es sich dabei offensichtlich um kein Werk eines Künstlers handelt? Und dahinter lauert dann gleich noch die leidige Thematik, was denn Kunst überhaupt sei?

Aufgrund seiner mäzenatischen Finanzierung ist das „Container-Art-Project“ (CAP) nicht durch die Verfolgung unmittelbar kommerzieller Ziele motiviert. Deswegen macht es Sinn, den im Projektnamen formulierten künstlerischen Anspruch entgegen dem gegenwärtigen Trend zur inflationären Ver- und Entwertung von Kunst keinesfalls leichthin zu ignorieren. Da indes dem Container nichts Künstlerisches direkt anzusehen ist, bedarf die Frage, worin denn dessen künstlerische Qualität eigentlich bestehen könnte, einiger hoffentlich zur weiteren Diskussion anregender theoretischer Überlegungen:

II)

Beginnen wir mit unserem Nachdenken beim Container als dem Kern des Projektes und versuchen, diesen im Kunstkontext zu positionieren, so drängen sich unweigerlich die „ready-mades“ von MARCEL DUCHAMP als Orientierungshilfe auf. Sie sind das historische Vorbild, wie (industriell) gefertigte

Gebrauchsgegenstände erstmalig bewusst zu Objekten ästhetischer Erfahrung gemacht worden sind. Um das zu erreichen, hatte Duchamp auf die von Institutionen generell ausgehende wertsteigernde Definitionsmacht vertraut und es am Anfang des 20. Jahrhunderts unternommen, bestimmte, ihm zufällig begegnete Fundsachen („objets trouvés“) in Museumsausstellungen einzuschleusen.

Zwar ist es ebenso ein wesentliches Ziel des von dem Architekten Sven Erik Dethlefs initiierten Container-Projekts, es im „Betriebssystem Kunst“ zu etablieren und zur Geltung zu bringen; und ebenso wie den damaligen „ready-mades“ sind dem Container selbst eben keinerlei Besonderheiten eigen, welche ihn augenscheinlich als Kunst ausweisen. Umso bemerkenswerter ist es, dass dem heutigen Inklusionsversuch des CAP in die Kunstwelt ein völlig anderen Konzept zugrunde liegt, als es seinerzeit Duchamp verfolgt hat:

Bei Duchamp waren die jeweiligen konkreten Eigenschaften des Raumes, der zur Präsentation der ready-mades diente, für deren Status als Kunst unerheblich. Es war vielmehr völlig ausreichend, irgendetwas nach Art eines Werkes in den Räumlichkeiten einer Kunstinstitution auszustellen, um dadurch das Verhalten von Besuchern derart zu beeinflussen, dass alltägliche Gebrauchsgegenstände für sie ästhetisch betrachtbar wurden. Im Unterschied dazu erweisen sich gerade die ganz konkreten materialen Eigenschaften des Container-Raumes als unerlässlich dafür, dass etwas an sich bloß Alltägliches künstlerisch transformiert werden kann.

Denn anders als bei Duchamp, wo jeder Raum völlig unsinnlich und nur rein institutionell definiert wird für Kunst prädestiniert zu sein, sind für den Container gerade seine materialen Eigenschaften bestimmend und verleihen ihm ein höchst funktionales Aussehen. So erscheint die Form des Containers durch und durch als zweckmäßig, doch ohne dabei auf die Erfüllung eines bestimmten Zweckes ausgerichtet zu sein. Seine Besonderheit besteht also darin, dass sich an ihm etwas so Paradoxes wie eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck zeigt. Der Raum des Containers kann insofern als zweckfrei erscheinen, obwohl er tatsächlich überhaupt nicht zwecklos, sondern auf vielfältige Weise sehr wohl nutzbar ist.

III)

Auch wenn in ebensolcher Zweckfreiheit nach I. KANT eine der Grundvoraussetzungen für das Ästhetische liegt, wäre es verfehlt, den Container als solchen nun gleich zum Kunstwerk zu (v)erklären. Allerdings ist ihm allemal die an sich schon ziemlich außergewöhnliche und durchaus kunstaffine Qualität eines Freiraums* zuzusprechen. Dabei kommt diesem im Unterschied zu seinen sonst lediglich stationär vorkommenden Ausprägungen noch ein besonderer Vorzug zu. Aufgrund der den Container-Raum auszeichnenden Mobilität erfährt die Freiheitlichkeit des durch ihn gegebenen Freiraums sogar noch eine deutliche Steigerung.

Was diese Steigerung eigentlich bedeutet und die Wertschätzung von Freiraum generell begründet, lässt sich – zwar immer noch abstrakt genug, aber doch durchaus ein wenig greifbarer – als Eröffnung und Erweiterung von Möglichkeiten beschreiben. Die Leistung von Freiraum, um es kurz und knapp zu formulieren, besteht also darin, etwas ermöglichen zu können. Wenn vom Konsens darüber ausgegangen wird, dass Kunst auf jeden Fall über die (all)gemeine Wirklichkeit ins Mögliche hinausweisen soll, ist Freiraum für ihre Existenz zu Recht als notwendige Voraussetzung anzusehen.

Andererseits hat der genauso als hochgradig unbestimmt, latent beliebig und gewissermaßen als schlicht leer charakterisierbare Freiraum auch ebendiese negativen Kehrseiten. Das verdeutlicht nochmals, dass der Container und sein Freiraum es als solche keineswegs hergeben, selbst für ein Kunstwerk gehalten zu werden. Aber zumal als ein durch seine Mobilität noch potenzierter Freiraum vermag der Container sehr wohl als gewissermaßen ein Werk-Zeug zu taugen, um etwas Künstlerisches zu ermöglichen. Damit allerdings Kunst dann tatsächlich auch verwirklichbar wird, muss dafür zu der bereits benannten notwendigen noch eine hinreichende Voraussetzung hinzukommen.

IV)

Es bedarf nämlich darüber hinaus einer inhaltlichen Bestimmung dessen, was denn der Freiraum eigentlich ermöglichen soll, damit etwas der Kunst wirklich zuzurechnen ist. Gewiss besteht in der potentiellen Befreiung von Konventionen und Normierungen oder in der weitgehenden

Selbstbestimmbarkeit von Regeln eine wesentliche Funktion von Freiraum. Aber der eigentliche Sinn eines nicht nur als Selbstzweck verstandenen Freiraums erfüllt sich im Metier der Kunst vor allem und allererst dann, wenn den Rezipienten individuelle Handlungsentscheidungen ermöglicht werden, denen der Charakter des Unwahrscheinlichen zukommt.

Denn um ohne Rückgriffe auf Mystik und Esoterik oder dergleichen dann Ergebnisse schöpferischer Kreativität qualifizieren zu können, gibt es dafür kaum ein anderes rational und ggf. auch empirisch nachvollziehbares Kriterium, als über diese nach dem ihnen eigenen Grad an Unwahrscheinlichkeit zu urteilen. Was hier als Frage nach der Zugehörigkeit zur und der Qualität von Kunst problematisiert wird, ist also mit der in diesem Rahmen nicht weiter begründbaren und so für evident gehaltenen These zu beantworten, dass als Voraussetzung für beides die Ermöglichung des Unwahrscheinlichen** gelingen muss. (1)

Die Ermöglichung des Unwahrscheinlichen als ein zwar rationales, aber übrigens immer noch genügend Geheimnisse bergendes Merkmal von Kunst theoretisch zu behaupten, kann zugleich als ein an die Künstlerschaft gerichtetes praktisches Postulat gelesen werden. Nach traditionellem Kunstverständnis war damit gemeint, dass es dem Künstler_in (§) möglich sein soll, das Unwahrscheinliche durch Schaffen eines Werkes zu verwirklichen; so wird etwa erwartet, ein Werk möge unwahrscheinlich schön, neu, kritisch oder wie auch immer geartet sein – je nach Gusto. Sobald das der Fall zu sein scheint, gilt das Geschaffene als Kunstwerk und sein Autor als Künstler_in.

V)

Diese auf Künstler und Werk fixierte Kunstauffassung hat eine lange Tradition, ist aber eigentlich ein Auslaufmodell. Doch aufgrund ihrer Konformität mit dem vorherrschenden Vermarktungsdrang kultureller Produkte ist diese Anschauung und der dazu gehörige Geniegedanke nach wie vor dominant. Gleichwohl gibt es durchaus auch progressive Alternativen dazu. Für den hiermit eingeführtentransmaterialistisch genannten Kunstbegriff, dessen Kerngedanke sich auch sonst bei Experten durchzusetzen beginnt, gilt es, Kunst nicht mehr in einem unwahrscheinlichen materialen Erzeugnis zu sehen, sondern sich als ein unwahrscheinliches mentales Ereignis vorzustellen. Kunst realisiert sich dann nicht mehr allein durch die Betrachtung eines vom Künstler vorgegebenen materialen Objektes. Vielmehr ist sie dem Rezipienten primär als ein real zu erhandelnder Prozess aufgegeben.

Gemäß diesem auf den Rezipienten zentrierten, gewissermaßen kundenorientierten Kunstbegriff, ist der Container statt als Objekt der Betrachtung als ein Handlungsinstrument (Werk-Zeug) zu verstehen und zu handhaben. Seine Funktion besteht darin, den beteiligten Rezipienten ein außergewöhnliches Handlungsfeld, gleichsam eine Wunschmaschine anzubieten, damit sich unwahrscheinliche Verhaltens- , Kommunikations- und Erfahrungsformen bei ihnen etwa in interaktiven oder partizipatorischen Handlungsprozessen ereignen können. Insofern ist der Container im Container-Art-Projekt auch als eine Art Unwahrscheinlichkeits-Generator vorzustellen ohne selbst Kunst, sondern eben ein Potential für die Ermöglichung von Kunst zu sein.

Ob die derart gegebene Option auf Kunst zumindest temporär einzulösen ist, hängt wesentlich davon ab, wie der Container tatsächlich jeweils bespielt wird. Daher bedarf es pragmatisch gesehen unbedingt einer Art Intendanz, von der Vorschläge zur Bespielung entwickelt, ausgewählt aber auch etwa durch Wettbewerbe oder Einladungen motiviert werden sollten. Wann immer das Erreichen künstlerischer Qualität mit dem Container-Art-Projekt angestrebt wird, hat als Kriterium für die Programmgestaltung einer solchen Bespielung zu gelten, dass es dadurch zu einer möglichst hochgradigen und sinnreichen Ermöglichung des Unwahrscheinlichen für die Beteiligten kommen kann.

Wie erfolgreich das künftig gelingt ist einerseits davon abhängig, was an inspirierendem Potential in der jeweiligen Programmkonzeption und ihrer materialen Umsetzung steckt. Neben einer intensiv zu leistenden öffentlichkeitswirksamen Vermittlung dieser Faktoren spielt indes vor allem auch die Bereitschaft des Publikums eine große Rolle, das eigene mentale Potential an Interessen und Befähigungen in das Projekt einzubringen und zu entwickeln. Diese gesamten Voraussetzungen müssen bedacht werden, wenn über die Berechtigung des künstlerischen Anspruchs von transmaterialistisch operierenden Projekten generell und des Container-Art-Projekts speziell geurteilt wird. Alle zur Entscheidung darüber geführten Diskurse haben sich jedenfalls an dem hier für relevant gehaltenen

Kriterium zu orientieren, ob etwas die Verwirklichung von Unwahrscheinlichem hat wahrscheinlicher werden lassen. (1)

Diese realistische und vermeintlich auch relativistische Einschätzung mag im Kontrast zu der inzwischen auch im Kunstbereich üblichen Werberhetorik etwas ernüchternd wirken. Dabei ist es uns doch längst bewusst: Auch die besten Medikamente machen es günstigstenfalls nur wahrscheinlicher, gesünder zu werden. Entscheidend sind die guten Gründe, die uns hoffen lassen, dass unsere Heilungschancen mit ihnen höher sind, als wenn der pure Zufall regierte. Mehr lässt sich jedenfalls über Kunstprojekte und ihre tatsächliche ästhetische Wirksamkeit glaubhaft auch nicht behaupten. Insofern ist das Projekt und sein Name CAP als Absichtserklärung zur Einlösung eines derartigen Versprechens ein- und wert zu schätzen. 

* Siehe dazu speziell die Dissertation von Christiane Wehr: Freiraum frei räumen. Ein inflationär

gebrauchter Topos wird entsedimentiert

􏰁 http://archiv.ask23.de/draft/archiv/md47_fachliteratur/436-7.html
** Vgl. Michael Lingner: Ermöglichung des Unwahrscheinlichen. Von der Idee zur Praxis ästhetischen

Handelns…

􏰁 http://archiv.ask23.de/draft/archiv/ml_publikationen/kt94-3_de.html (1)

Natürlich hängt es dann immer noch von einer gut entwickelten Urteilskraft ab, dass nicht unwahrscheinlicher Blödsinn für Kunst gehalten wird. Denn für etwas nicht bloß quantitativ Gegebenes muss jedes Kriterium verständig angewendet werden und es vermag etwa bei Qualitätsfragen nicht wie eine Maschine automatisch ein Ergebnis generieren.

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